ein Hörspiel von Max Benyo
Lauscherlounge
Gesamtspielzeit: ca. 131 Minuten
VÖ: 12.10.2018
Empfehlung: ab 16 Jahren
„So, Jungs. Feierabend. Macht mal hinne hier. (…) Jungs, was ist eigentlich mit heute Abend? – Ja, läuft. Chrissy. Wir haben uns da was Feines ausgedacht. – Das wird so geil. Tim, kommste auch mit? – Wohin? – Na, unser Chrissy hat am Wochenende Hochzeit und wir haben ihm für heute son Junggesellenabschied organisiert. – Sind alle eingeladen. – Ja, komm´ mit, Mann. Keine Ahnung, was die Idioten sich überlegt haben, aber wird bestimmt lustig. – Musst ja auch ordentlich auf die Kacke hauen, bevor du dich in der Ehe versklavst. (…) – Ja, um 20:00 Uhr geht es los, Tim!“
Tim ist 16, als er die gleichaltrige Lena unter Drogen auf einer Party vergewaltigt. Vier Jahre später wird er aus der Haft entlassen und soll ein neues Leben beginnen. Doch die Auswirkungen seiner Tat dauern an – und lassen weder ihn noch Lena los.
Der Hörer taucht in Tims und Lenas Leben ein, erlebt ihre Kämpfe und Sorgen mit, und lernt ihre Gefühlswelt zu verstehen. Ohne das Thema Vergewaltigung zu verharmlosen oder Tims Schuld zu mildern, portraitiert Max Benyo einen jungen Mann, der nicht nur das Leben seines Opfers, sondern auch sein eigenes zerstört hat und nun mit den Folgen leben muss.
Ungewohntes Thema
Dieses Hörspiel ist harter Tobak. Sehr harter Tobak und somit sollte die Altersempfehlung unbedingt beachtet werden, denn das Thema Vergewaltigung bzw. dessen andauernde Auswirkungen auf das Leben von Opfer und Täter in einem kompletten Hörspiel zu thematisieren ist mutig und sicherlich nichts, was man mal eben nebenbei zur reinen Unterhaltung hört. Hierauf muss man sich einlassen (können und wollen) – ebenso wie auf die doch etwas ungewohnte Machart.
TINNITUS ist nämlich auch sonst ganz anders als viele Hörspiele, die man aktuell auf dem deutschen Hörspiel-Markt finden kann. Besonders an dieser Produktion ist vor allem der filmisch-realistische Sound, welcher in 28 Locations und 47 Schauplätzen „on location“ mit mobilen Aufnahmegeräten und oftmals handgeführter Mikrofonierung aufgenommen wurde. Bei den ersten Klängen mag der eifrige Hörspiel-Hörer vielleicht stutzen, ist der Ton dieses Hörspiels doch ganz anders als gewohnt. Schnell jedoch wird man von den realistisch-rohen Klängen vereinnahmt und fühlt sich wie ein Teil des Ganzen, fühlt sich als unsichtbarer Beobachter und ist oft gewillt, in das Geschehen einzugreifen, die die Hauptpersonen mal richtig „wachzurütteln“ und ihnen ins Gewissen zu reden.
unglaubliche Detailtreue
Und gerade diese Detailtreue macht das Hörspiel aus. Da man hier nicht von einem Erzähler durch das Geschehen geführt wird, muss man sich selber zurecht finden, muss erst mal hören, was passiert, denn nicht immer sind die Klänge auf Anhieb eindeutig. Zudem bekommt jede Szene enorm viel Raum und Zeit. Nicht nur die Töne sind echt, nein auch die einzelnen Sequenzen sind zeitrealistisch. Man hört hier, wie viel Zeit tatsächlich vergeht, beispielsweise vom Klingeln an der Tür bis diese geöffnet wird und der Besucher den Raum betritt.
Opfer- und Täter-Perspektive
Und auch das ist mutig, wie ich finde. Schließlich hört man doch immer wieder, Zeit sei Geld. Hier jedoch ist Zeit vor allem Qualität und Ruhe. Aber nur so kann man sich auch vernünftig einem solchen anspruchsvollen Thema widmen. Nur so kann das Geschehen wirklich auf einen wirken, nur so kann man sich als Hörer auch auf die Seite des Täters einlassen und vielleicht sogar mitunter Verständnis für ihn aufbringen.
Doch selbstverständlich steht nicht nur der Täter im Fokus. Auch die Konflikte und Zwiespälte des Opfers werden immer wieder thematisiert. Die Tat hat Lenas Leben komplett verändert und so präsentiert sie sich oft als zwiegespaltener Mensch, der die Tiefe der Verletzungen noch längst nicht überwunden hat.
Gesprochen werden die Hauptpersonen übrigens von Jonathan Berlin und Elisa Schlott, welche beide bereits aus diversen Film- und Fernsehproduktionen bekannt sind. Insgesamt waren an dieser Produktion 54 Schauspieler und 18 Komparsen beteiligt.
Nach längerer Abstinenz auf dem Hörspielmarkt wollte die Louscherlounge mit dieser Comeback-Produktion ein mutiges Zeichen – abseits des Mainstreams – setzen. Dies ist voll und ganz geglückt. Da TINNITUS erst der Auftakt zu drei besonderen Hörspielproduktionen bildet, dürfen wir mehr als gespannt sein, was als nächstes folgen wird.
Mein Fazit:
TINNITUS ist ein ganz besonderes Hörspiel. Eins, für das man Ruhe und Zeit benötigt, eins auf das man sich einlassen können muss. Vor allem aber ein Hörspiel, das mit seiner realistischen Machart und Detailgenauigkeit überzeugen kann. Wer hier allerdings Action oder Blockbuster-Momente erwartet, ist hier falsch, denn (um bei dem Film-Vergleich zu bleiben) TINNITUS ist ein „Arthouse“-Hörspiel.
Mareike Lümkemann
29. Januar 2019