GRUSELKABINETT
139: Edgar Allan Poe: “Der Rabe”
Titania Medien
Gesamtspielzeit: ca. 66Minuten
Altersempfehlung ab 14 Jahren
VÖ: 31.08.2018
„Sie war hochgewachsen, schlank. Ja, in ihren letzten Tagen sogar sehr abgemagert. Es wäre vergebliche Mühe, wollte ich die Majestät, die ruhige Gelassenheit ihrer Haltung, die unbegreifliche Leichtigkeit, das Schwebende ihres Ganges beschreiben. (…) Sie kam und ging wie ein Schatten. Ich bemerkte niemals, dass sie in mein Arbeitszimmer getreten war. Erst immer dann, wenn ich die geliebte Musik ihrer sanften, tiefen Stimme vernahm. Oder ihre marmorweiße Hand auf meiner Schulter spürte.“
1843 am Rhein: Auf einer Reise lernt der Engländer Noel Baron in einer alten Stadt am Rhein die äußerst faszinierende Dichterin Lady Ligeia kennen und lieben. Sie arbeitet gerade an einem Werk, welchem sie den Titel „Der Rabe“ gegeben hat…
Kunstwerk sondergleichen
Mit dem Raben haben sich Marc Gruppe und Stephan Bosenius von Titania Medien einem der bekanntesten US-amerikanischen Gedichte angekommen. Doch da das Werk von Edgar Allan Poe in seiner Original-Fassung nur 108 Versen umfasst, hat man das Gedicht geschickt in einen atmosphärisch-gruseligen Rahmen integriert: Die unnahbare Lady Ligeia, deren mysteriöse Wurzeln nach eigenen Angaben in den Tiefen der Karpaten liegen, und der Engländer Noel Baron stehen im Mittelpunkt des Geschehens, genauer ihre Liebschaft. Ein großer Abschnitt des Hörspiels besteht aus Liebesschwüren und Beschreibungen von Ligeias Schönheit. Ein Kunstwerk sondergleichen, denn selten konnte man solch intensiven Erläuterungen, welche schon fast unter Poesie fallen, so lange lauschen, ohne dass es langweilig wurde. Und auch die in vollen Zügen ausgelebte Leidenschaft zwischen den beiden wird lautstark deutlich. So deutlich, dass auch eine höher angesetzte Altersempfehlung vielleicht von manch einem Hörer befürwortet werden könnte.
Nimmermehr
Der Rabe hingegen wird „nur“ integriert. Das mag dem einen oder anderen vielleicht zu wenig erscheinen, da das Gedicht lediglich an einer Stelle in seiner vollen Länge vorgetragen wird. Der aufmerksame Hörer hingegen, der genau zuhört und die Bedeutung des Raben versteht und zu interpretieren weiß, wird begeistert sein und sicherlich auch schon etwas ahnen. Und richtig, spätestens als Baron Lady Rowena kennenlernt und diese zur Frau nimmt, wird klar, dass ein Schatten auf seiner Seele liegt und dieser zur Folge hat, dass er Ligeia nimmermehr vergessen kann. Dies bekommt vor allem Rowena zu spüren – körperlich wie seelisch. Dass diese körperlichen Begegnungen nicht sehr viel mit Liebe zu tun haben, wird ebenso deutlich akustisch klar wie vorher die intensiven und liebevollen Zusammentreffen mit seiner ersten Gattin. Diese Szenen gehen somit nicht nur Rowena unter die Haut, sondern auch als Hörer muss man an manchen Stellen schlucken.
Psychischer Horror
Wer in dieser Folge jedoch den klassischen Grusel erwartet, der wird hier wahrscheinlich etwas enttäuscht sein. Hier geht es vielmehr um den psychischen Horror, um das, was eine (verlorene) Liebe mit den Menschen macht und um die Auswirkungen der eigenen Besessenheit. Es ist eine Folge mit viel Anspruch, auf die man sich einlassen können muss.
Ein gewisser Grusel-Faktor kommt aber selbstredend auch nicht zu kurz. Ähnlich wie bei den ausführlichen Liebesschwüren von Noel, der übrigens auch als Erzähler durch das Geschehen führt, sind auch viele seiner weiteren Beschreibungen so detailgetreu und düster, dass sich automatisch das „ungute Gefühl“ einstellt, dass man so gerne beim Hören von Grusel-Hörspielen hat.
Mein Fazit:
Wieder einmal ein Hörspiel aus der Gruselkabinett-Reihe, das mit wenig Mitteln extrem viel erreicht. Alleine sechs Akteure umfasst die Sprecherriege und das namengebende Gedicht ist lediglich ein Teil des großen Ganzen und dennoch ist ein packendes Hörspiel mit großem Anspruch entstanden, das sicherlich seine Anhänger begeistern wird!
Mareike Lümkemann
7. September 2018